Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland

Typ: Rede , Datum: 12.11.2023

Grußwort von Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

  • Ort

    Frankfurt am Main

  • Rednerin oder Redner

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Mitglieder des Präsidiums,

verehrte Rabbinerinnen und Rabbiner,

sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr über die Einladung, bei der diesjährigen Ratsversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland zu sprechen. Herzlichen Dank dafür! Das ist mir eine Ehre!

"Wo warst Du am 7. Oktober 2023?"

Diese Frage kann jede und jeder von Ihnen beantworten. Denn dieses Datum teilt das jüdische Leben in ein Vorher und ein Nachher.

Zuerst kam die Schreckensnachricht, dass die Terrororganisation Hamas Israel massiv mit Raketen beschießt.

Dann wurde klar, wie ungeheuerlich dieser Angriff war.

Die Terroristen ermordeten an diesem Tag alle, die ihnen nicht schnell genug entkommen konnten. Ihr Ziel war es, so viele Jüdinnen und Juden zu töten wie möglich. Das Massaker des 7. Oktober war der schlimmste Angriff auf jüdische Menschen seit der Schoah.

Und dieser Angriff ist noch nicht vorbei. Jeden Tag verlieren israelische Soldatinnen und Soldaten ihr Leben.

Jeden Tag halten die Angehörigen der Geiseln, die noch in der Gewalt der Hamas sind, unvorstellbare Ängste um ihre Lieben aus. Was die Entführten selbst erleiden müssen – ob sie überhaupt noch leben – wissen wir nicht.

Und jeden Tag fürchten auch hier bei uns in Deutschland Jüdinnen und Juden um ihre Sicherheit. Denn die Hamas-Parole „vom Fluss bis zum Meer“ war nach dem 7. Oktober auch auf unseren Straßen zu hören.

Auch in unseren Städten feierten die Unterstützer der Hamas den brutalen antisemitischen Terror. Und auch hier bei uns in Deutschland hat es seitdem vermehrt Angriffe auf jüdische Menschen und Orte gegeben – so wie auf die Synagoge in der Berliner Brunnenstraße.

Meine Damen und Herren,

wer das Ermorden, Vergewaltigen und Verschleppen von Menschen als „palästinensischen Freiheitskampf“ bezeichnet, ist Kein Opfer von Umständen. Und schon gar nicht kritisch, nicht links, nicht progressiv, sondern schlicht und einfach abscheulich. Wer den Terror der Hamas gutheißt, relativiert oder rechtfertigt, begibt sich außerhalb jeder Moral und außerhalb des Rechts!

Und ich versichere Ihnen: Wir gehen dagegen mit allen rechtlichen Mitteln vor, die uns zur Verfügung stehen.

Nach dem 7. Oktober haben wir die Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen in Deutschland sofort hochgefahren. Und in der letzten Woche ist ein Betätigungsverbot für die Hamas und das Unterstützer-Netzwerk Samidoun in Kraft getreten. Den deutschen Ableger von Samidoun habe ich aufgelöst. Denn wir dulden deren Hetze hier nicht.

Die Botschaft unseres Staates ist klar und eindeutig:

Jüdinnen und Juden sollen sich in Deutschland sicher fühlen können!

Meine Damen und Herren,

viele von Ihnen haben am 7. Oktober das Ende des Laubhüttenfests Sukkot gefeiert. Vielleicht haben Sie sich dabei gefragt: Reichen die Schutzvorkehrungen der Synagoge aus? Und viele haben sich wohl auch gefragt: Wie wird es meinen Kindern am Montag in der Schule gehen?

Als ich vor knapp einem Monat die Kindertagesstätte und Schule hier im Gemeindezentrum besucht habe, waren vier von fünf Schülerinnen und Schülern am Freitag zuvor Zuhause geblieben.

Weil sich die Eltern um ihre Kinder sorgten.

Neue Sicherheitskonzepte mussten ausgearbeitet werden – für den Schulweg.

Das bricht mir das Herz.

Ich bin heute auch deshalb hierhergekommen, um Ihnen zu versichern: Wir als Bundesregierung hören Ihre Ängste und Sorgen – und wir handeln! Die Sicherheit von Ihnen allen, insbesondere die Ihrer Kinder, ist nicht verhandelbar! Heute tut der Staat alles, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten.

Auch aus der Bevölkerung kommt viel Unterstützung: Vor den Synagogen vieler Städte fanden Mahnwachen statt. Im ganzen Land sind tausende Menschen zusammengekommen, um sich solidarisch mit Israel und seiner Bevölkerung zu zeigen. Und um Ihnen, um Jüdinnen und Juden in Deutschland zu zeigen, dass wir Ihnen zur Seite stehen.

Aber ich sage auch mit Nachdruck: Das reicht noch nicht! Die Gesellschaft muss noch lauter werden: Wir müssen uns dem Hass auf den Straßen und im Netz noch viel deutlicher entgegenstellen.

Seit Gründung der Bundesrepublik stand das jüdische Leben in unserem Land keiner so großen Bedrohung gegenüber, wie jetzt. Für unser ganzes Land markiert der 7. Oktober eine Zäsur.

Die Entwicklungen der vergangenen Wochen zeigen uns: Ein „weiter so“ darf und wird es nicht geben!

Bei einem Austausch mit Vertretern jüdischer Gemeinden und Organisationen im BMI vor einigen Tagen  sagte eine Teilnehmerin:

"Wir fühlen uns in Israel unter Bombenhagel sicherer als in Deutschland, wo wir nicht wissen, wann wir uns das nächste Mal für das rechtfertigen müssen, was in Israel geschieht, und wann wir angegriffen werden."

Mich erschüttern diese Worte. Denn sie beschreiben ein gesellschaftliches Klima, das für Jüdinnen und Juden kaum erträglich ist. Zugleich höre ich von nach Israel ausgewanderten Jüdinnen und Juden, die zu ihren in Deutschland lebenden Verwandten sagen:

Gut, dass ihr in Deutschland seid!     

Dieses Vertrauen gibt mir Hoffnung. Als Bundesregierung wollen wir ihm gerecht werden. Denn für die Sicherheit jüdischen Lebens trägt unser Land eine besondere Verantwortung. Es war mir sehr wichtig, das Ihnen, Herr Präsident Dr. Schuster, bei unserem Treffen am Oktober auch persönlich zu versichern.

Meine Damen und Herren,

Sie alle wissen leider nur zu gut: Der Antisemitismus ist nach 1945 nicht verschwunden. Es gibt ihn seit tausenden von Jahren und in vielen Formen. Sein extremster und furchtbarster Ausdruck war die Schoa. Israels Gründung war auch die Antwort auf dieses Menschheitsverbrechen. Und seit 1948 richtet sich Antisemitismus auch auf den jüdischen Staat.

Die größte antisemitische Bedrohung kommt nach wie vor von rechts. Doch der Judenhass kommt nicht nur von den Rändern der Gesellschaft. Er findet sich in allen gesellschaftlichen Gruppen:

Die Verschwörungserzählungen und Holocaust-Relativierungen der Corona-Pandemie haben gezeigt, wie verbreitet Antisemitismus auch in bürgerlichen Milieus ist. Nicht zuletzt die Flugblatt-Affäre in Bayern hat uns das vor Augen geführt.

Antisemitismus ist in den gesellschaftlichen Mainstream eingesickert und überflutet das Internet – besonders in den sozialen Netzwerken, auf Telegram und TikTok.

Und auch in - zumindest per Eigendefinition - progressiven Milieus gibt es ihn – das haben wir bei der documenta im letzten Jahr gesehen. Antisemitische Einstellungen haben ihren Weg in die Kulturbetriebe, Hörsäle und Publizistik gefunden, verpackt in vermeintlich antikoloniale und antirassistische Positionen. Sie haben den Weg geebnet für ein Klima des Hasses.

Wer "Free Palestine from German guilt" ruft, begibt sich auf einen geschichtsvergessenen und gefährlichen Pfad. Das BKA hat mir berichtet, dass sogar religiöse Orte und Gedenkstätten mit solchen Slogans beschmiert worden sind, so wie die Mahn- und Gedenkstätte Ahlem in Hannover vor zwei Wochen und das Gebäude der Jüdischen Gemeinde in Rostock Mitte Oktober.

Und ich frage mich: Warum schweigen Musiker, Künstlerinnen und Intellektuelle dazu? Warum schweigen sie, wenn 1400 Menschen brutal ermordet werden? Warum schweigen so viele, wenn hierzulande Juden angegriffen werden?

Es sind schmerzhafte Fragen, doch wir müssen sie stellen – gerade jetzt.

Meine Damen und Herren,

ein "Ja, aber", wenn es um ermordete Juden geht, macht die Opfer zu Tätern.

Und dass Täter- und Opfer-Rollen verdreht werden, sehen wir bei allen Formen von Antisemitismus. Ganz aktuell, wenn Israel einseitig beschuldigt und eines Genozides bezichtigt wird, nachdem es Opfer eines beispiellosen Massakers geworden ist.

Im israelbezogenen Antisemitismus treffen sich Extremisten von rechts und links mit islamistischen und bürgerlichen Milieus.

Doch gleich woher er kommt: Wir bekämpfen Antisemitismus aus allen Richtungen. Denn Antisemitismus ist ein indiskutabler Angriff auf die Würde des Menschen. Er steht all unseren demokratischen Werten entgegen!

Und ich bin überzeugt: Dazu darf niemand schweigen. Deshalb erwarten wir zum Beispiel auch von islamischen Gemeinschaften und Verbänden in Deutschland, dass sie sich klar positionieren. Das ist auch für die vielen Menschen muslimischen Glaubens wichtig, die selbst vor islamistischer Gewalt nach Deutschland geflohen sind.

Auf Solidaritätskundgebungen für Israel und gegen Antisemitismus waren zum Beispiel neben israelischen stets auch viele iranische Flaggen zu sehen.

Und bundesweit haben viele Muslime ihr Mitgefühl mit Jüdinnen und Juden ausgedrückt. Das gibt mir Hoffnung!

Wir brauchen mehr solcher Zeichen, die Zuversicht geben. Wir müssen in diesen Zeiten klare Signale senden und Gesicht zeigen gegen Antisemitismus. Wir alle!

Denn der 7. Oktober betrifft jeden von uns. Antisemitismus richtet sich gegen unsere offene und freiheitliche Gesellschaft als Ganze. Deshalb ist der Kampf dagegen nicht nur Aufgabe des Staates, sondern der gesamten Gesellschaft.

Meine Damen und Herren,

nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle hat der Staat schnell und umfassend reagiert und einen Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus ins Leben gerufen.

Der Ausschuss hat 2020 ein umfangreiches Paket mit 89 Maßnahmen vorgelegt. Das war ein echter Meilenstein:

Die Sicherheitsbehörden und viele zivilgesellschaftliche Projekte haben zusätzliche Mittel zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus bekommen.

Wir müssen Antisemitismus ganzheitlich bekämpfen. Dazu brauchen wir das ganze Spektrum präventiver und repressiver Ansätze. Die Bundesregierung hat deshalb auch das Strafrecht verschärft. Es ist zum Beispiel inzwischen strafbar, ausländische Flaggen zu verbrennen. Und mit dem neuen Straftatbestand der "Verhetzenden Beleidigung" können wir die Verfasser von Hassbriefen belangen, die der Zentralrat ja tausendfach erhält.

 Auch Paragraph 46 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs wurde um antisemitische Motive ergänzt. Sie müssen nun bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden. Die Strafe fällt dann höher aus.

Im April hat diese Bundesregierung die jährlichen Leistungen an den Zentralrat von 13 auf 22 Millionen Euro erhöht. Doch um jüdisches Leben dauerhaft und nachhaltig zu schützen und zu stärken, müssen wir größer denken:

Deshalb hat die Bundesregierung mit der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben vor einem Jahr eine Strategie beschlossen, die sich an alle Ebenen des Staates und auch an die gesamte Gesellschaft richtet:

Jeder Verein, jede Schule, jedes Unternehmen kann damit arbeiten, um im eigenen Umfeld etwas gegen Antisemitismus zu tun.

Und das passiert bereits. Mehrere große Unternehmen und Fußballvereine haben in den letzten Jahren die IHRA -Definition angenommen. Sie haben Präventions-Programme oder Erinnerungs-Projekte auf die Beine gestellt.

In vielen Fußballstadien waren in den letzten Wochen Transparente zu sehen mit Unterstützungsbotschaften für Israel.

Auch das gibt mir Hoffnung.

Meine Damen und Herren,

wenn Politiker über jüdisches Leben in Deutschland sprechen, fallen häufig Ausdrücke wie "Wunder" und "Geschenk". Und angesichts der Shoah ist das florierende deutsch-jüdische Leben heute auf die Mehrheitsgesellschaft auch genau das.

Die Vielfalt jüdischen Lebens ist heute wieder sichtbar. Und das ist vor allem ein Verdienst der engagierten Arbeit, die der Zentralrat der Juden in Deutschland leistet. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich!

Was Sie auf die Beine stellen, ist   beeindruckend – immer wieder. Zum Beispiel mit Ihrer erfolgreichen Initiative "Meet a Jew":

Das Projekt ermöglicht Nicht-Juden, mit Juden ins Gespräch zu kommen – in der Schulklasse, im Sportverein, bei einer Tasse Kaffee oder einem Spaziergang. Dass es an solchen Begegnungen ein so großes Interesse gibt, macht Mut!

Auch das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" hat dazu beigetragen, jüdisches Leben von verschiedenen Seiten kennenzulernen.

Und mit dem Jewrovision Song Contest ist für Kinder und Jugendliche schon so etwas wie eine neue Tradition entstanden.

Jüdisches Leben in Deutschland ist heute selbstbewusst und selbstbestimmt.

Gerade im Sport wird das im Alltag gelebt, wie MAKKABI zeigt. Dort blüht das gesellschaftliche Miteinander, religionsübergreifend. Juden, Christen und Muslime spielen hier gemeinsam –

unter der MAKKABI-Fahne. Hier wird Zusammenhalt gelebt!

Anfang des Jahres haben die MAKKABI-Winterspiele in Ruhpolding stattgefunden. Dass diese Tradition nach 86 Jahren neu belebt wurde, hat mich als Sportministerin ganz besonders gefreut!

Auch institutionell schlägt jüdisches Leben in Deutschland neue Wurzeln. Zwei Beispiele zeigen, wie unsere Zusammenarbeit jüdisches Leben in Deutschland selbstverständlicher gemacht hat:

Vor gut zwei Jahren wurde Rabbiner Zsolt Balla zum ersten Militärbundesrabbiner ernannt. Mit seiner Seelsorge für die Soldatinnen und Soldaten knüpft das Militärrabbinat nach einhundert Jahren wieder an eine Tradition an:

Schon im Ersten Weltkrieg gab es sogenannte "Feldrabbiner" – zu denen auch Leo Baeck zählte.

Das zweite Beispiel ist der Bau der jüdischen Akademie hier in Frankfurt, die wir mit vier Millionen Euro aus dem neuen Staatsvertrag mitfinanzieren. Sie soll den intellektuellen Diskurs über das Judentum in die Öffentlichkeit tragen und Menschen weiterbilden, die an gesellschaftlichen Schnittstellen arbeiten.

Außerdem will die Akademie dazu beitragen, jüdische Zuwanderer zu integrieren. Und: Sie will Wissen über die jüdische Gemeinschaft und Religion vermitteln.

Der Bau der Jüdischen Akademie hier in Frankfurt ist Ausdruck der Entschlossenheit, jüdische Stimmen und Perspektiven in unseren Debatten und Diskursen zu fördern – und zugleich den Austausch zwischen Juden und Nicht-Juden zu intensivieren. Die aktuelle Lage zeigt eindringlich, wie sehr wir als Gesellschaft auf jüdische Stimmen angewiesen sind.

Auch in Berlin, Hamburg, Potsdam, Dessau und anderen Orten wachsen zurzeit jüdische Bauten an zentralen öffentlichen Orten – Synagogen, ein jüdischer Campus, eine Bibliothek.

Jüdisches Leben wird so in unserem gemeinsamen Alltag verankert. Ich wünsche mir sehr, dass wir damit weitere Schritte in Richtung einer Normalität deutsch-jüdischen Lebens in unserem Land gehen können.

Meine Damen und Herren,

vor wenigen Wochen hat Bundeskanzler Olaf Scholz die neue Synagoge in Dessau eröffnet. Das ist in diesen dunklen Tagen ein Grund zur Freude und ein Hoffnungsschimmer.

Und ein deutliches Signal:

Wir stehen zusammen!

Ich freue mich darauf, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.