Plenardebatte "Historische Verantwortung wahrnehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen"

Typ: Rede , Datum: 09.11.2023

Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

  • Ort

    Deutscher Bundestag

  • Rednerin oder Redner

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

"Es wird eine Zeit kommen, wo man […] sich fragt, wie ein bis dahin gesittetes, anständiges Volk sich zu solchen Gräueltaten veranlassen konnte."

Das schrieb der Düsseldorfer Jude Albert Herzfeld im Rückblick auf den 9. November 1938 in sein Tagebuch. Es war ein schwarzer Tag, ein Vorbote des größten Menschheitsverbrechens der Geschichte – der Shoah. Mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden fielen ihr zum Opfer. Die Erinnerung an diesen Zivilisationsbruch ist konstitutiv für unseren Staat – und unsere Gesellschaft. Genau wie das Versprechen "Nie wieder!"

Niemals darf sich wiederholen, was in diesen zwölf Jahren unserer Geschichte geschehen ist, was Deutsche getan haben – was sie haben geschehen lassen und wozu sie geschwiegen haben. Diese Lehre bleibt fundamental für die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassungsordnung. "Nie wieder" ist jetzt!

Deshalb dürfen wir nicht wegschauen und schweigen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen und ermordet werden. So wie in Israel am 7. Oktober – durch die islamistische Terrororganisation Hamas.

Die Terroristen machten kaltblütig Jagd auf Männer, Frauen und Kinder. Ihr Ziel war es, möglichst viele Jüdinnen und Juden zu töten. Die Mörder der Hamas wüteten bestialisch, wahllos, gnadenlos.

 Noch nie wurden seit der Shoa an einem Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet wie an diesem 7. Oktober.

Wir trauern um die Toten. Wir fühlen mit ihren Freunden und Angehörigen.

Wir bangen um die Geiseln. Und: Wir stehen fest an der Seite Israels. Und es gibt dieser Tage kein Aber.

Israel hat hier in Deutschland viele Unterstützer und Freunde. (Der Antrag, der heute hier zum Beschluss vorliegt, untermauert diese wichtige Botschaft. Dafür Ihnen herzlichen Dank, meine Damen und Herren Abgeordnete!)

Dennoch: Als Gesellschaft müssen wir noch lauter werden, wir müssen uns dem Hass gegen Jüdinnen und Juden noch deutlicher entgegenstellen.

 Denn zur Wahrheit gehört auch:

Der Terror der Hamas wurde noch am selben Tag auf unseren Straßen offen gefeiert. Es wurden Gräueltaten gebilligt und sogar bejubelt, antisemitische Parolen skandiert, Einsatzkräfte angegriffen. Hass uns Hetze halten seither an – online wie offline. Und immer droht auch physische Gewalt.

Viele Juden wagen es nicht, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch erkennen zu geben − wer eine Kette mit Davidstern oder eine Kippa trägt, muss damit rechnen, zum Ziel von Beleidigungen und Übergriffen zu werden. Nicht einmal vor den Jüngsten macht der neu aufgeflammte Hass halt. Wenn jüdische Kinder Angst haben müssen, zur Kita oder in die Schule zu gehen, wenn wir strengere Sicherheitskonzepte brauchen, um sie vor Übergriffen auf dem Weg zum Unterricht zu schützen, bricht es mir das Herz.

Das können und – und ich sage es in aller Deutlichkeit an alle, die es hören müssen – das werden wir nicht hinnehmen! Aus Respekt gegenüber der Geschichte, aus Verantwortung für die Gegenwart, aus Sorge um die Zukunft. 

Deshalb halten wir dagegen, deshalb ziehen wir Konsequenzen:

Wer Menschen angreift, muss mit der ganzen Härte des Rechtsstaats rechnen. Wer Massenmord rechtfertigt, wer Freiheitsrechte missbraucht, um unmenschliche Straftaten und Hass zu propagieren, kann sich nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit berufen. Nein! Er begibt sich außerhalb unserer Werte und außerhalb des Rechts – und muss sich dafür verantworten.

Unsere Demokratie weiß sich zu wehren!

In der letzten Woche ist ein Betätigungsverbot für die Hamas und das Unterstützer-Netzwerk Samidoun in Kraft getreten. Den deutschen Ableger von Samidoun habe ich aufgelöst. Meine Warnung geht: an alle, die mit ihnen sympathisieren: Diese Demokratie – unsere Demokratie – toleriert keine Form von Antisemitismus!

Denn 2023 ist nicht 1938. Wir stehen allen zur Seite, die von Antisemitismus, Hetzpropaganda und Gewalt betroffen sind. Heute können die angegriffenen Jüdinnen und Juden auf die Hilfe des Staates zählen, in dem sie leben! Und auch als gesamte Gesellschaft sind wir jetzt gefordert.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe. Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen. Jeder Angriff auf sie ist ein Angriff auf unsere offene Gesellschaft.

Wir nehmen sehr ernst, welche Gefahr aktuell von Unterstützern des Hamas-Terrors in Deutschland ausgeht. Unsere Sicherheitsbehörden beobachten deshalb genau, wie sich die Lage entwickelt.

Wir hören, wie groß die Angst in den jüdischen Gemeinden ist. Deshalb halten wir engen Kontakt zum Zentralrat der Juden. Als Reaktion auf den Hamas-Angriff vor einem Monat haben wir die Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland umgehend hochgefahren. Die Behörden von Bund und Ländern arbeiten gemeinsam daran, jüdischen und israelischen Einrichtungen noch besseren Schutz zu bieten. Dass sich die Sicherheitsbehörden auf Landesebene mit den jüdischen Gemeinden austauschen, unterstützen wir ausdrücklich. Dafür danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und vor allem den Einsatzkräften vor Ort ganz herzlich!

Sehr geehrte Damen und Herren,

der 7. Oktober ist eine Zäsur. Seine Folgen betreffen uns alle. Einfach weiterzumachen wie bisher, das wird nicht gehen.

Denn Antisemitismus, egal von welcher Seite, ist ein Angriff auf die Würde des Menschen. Ihn zu bekämpfen ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, sie geht an uns alle!

Deutschland ist ein Land der Freiheit und des Rechts. Seien wir einig darin, diese Werte zu verteidigen!

Lassen Sie uns gerade jetzt und mehr denn je – das jüdische Leben in Deutschland stärken und fördern. Ein Schritt auf diesem Weg ist der Ehrenamtspreis für jüdisches Leben, den wir im vergangenen Jahr erstmalig verliehen haben. An dieser Stelle geht mein ganz herzlicher Dank an den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Dr. Felix Klein. Dafür, dass er diesen besonderen Preis ausgelobt hat. Und für seine wertvolle, engagierte Arbeit, die aktuell wichtiger denn je ist. Lieber Herr Dr. Klein, lassen wir alle das jüdische Leben in Deutschland noch sichtbarer werden. Als Schimmer der Hoffnung in diesen dunklen Tagen. Und als unmissverständliches Signal: Wir stellen uns gemeinsam gegen Antisemitismus, Hass und Gewalt. Wir stehen zusammen! Vielen Dank!