„Haben Sprengstoff-Anschläge auf Militäranlagen verhindern können“
Interview 01.12.2024
Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Interview mit dem Handelsblatt
Handelsblatt
Frau Faeser, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, hat kürzlich gesagt, der Kreml agiere „ohne jegliche Skrupel“ und teste „rote Linien“ aus. Teilen Sie die Einschätzung?
Putin kennt keine Skrupel mehr. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erleben wir eine Zeitenwende in der inneren Sicherheit. Russland führt einen hybriden Krieg in Europa. Dass Desinformationskampagnen, Sabotageakte und Cyberattacken staatlich gesteuert sind, ist ja offensichtlich.
Der BND -Chef sieht das Risiko, dass sich irgendwann die Frage eines Nato-Bündnisfalls stellen könnte. Sehen Sie das auch so?
Ich hoffe nicht, dass die Schwelle zum Nato-Bündnisfall überschritten wird. Wir müssen weiter entschieden, aber zugleich besonnen handeln. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz immer getan, damit wir nicht in ein solches Szenario hineingeraten. Aber wir sehen natürlich, dass die hybride Bedrohungslage zunimmt. Deswegen müssen wir uns auch ganz anders aufstellen und schützen.
Es gab den von amerikanischen Geheimdiensten aufgedeckten Plan, den Rheinmetallchef Pappberger zu ermorden. Wie sehr steht die Wirtschaft im Visier Russlands?
Die deutsche Rüstungsindustrie steht klar im Fokus Russlands, weil wir der größte Unterstützer der Ukraine in Europa sind. Das nehmen wir sehr ernst. Deswegen haben wir enge Kooperationen mit ausländischen Partner-Diensten, um solche Fälle wie bei Rheinmetall aufzudecken.
Sind Attentate, wie im Fall des Rheinmetall-Chefs, weiterhin möglich?
Die Bedrohungslage hat sich stark erhöht. Deswegen schließen wir nichts aus, handeln aber auch entsprechend. Wir haben gemeinsam mit der Wirtschaft auch Maßnahmen erarbeitet, mit denen wir Unternehmen stärker dabei unterstützen, sich gegen Cyberattacken, Spionage und Sabotage zu wappnen. Der Verfassungsschutz berät, sensibilisiert und warnt bei Gefährdungen.
An wen konkret richtet sich das Konzept?
An alle Unternehmen in Deutschland. Dazu gehören auch Rüstungsunternehmen. Die hat der Verfassungsschutz schon im Sommer 2023 vor Gefahren gewarnt. Betroffen sind aber auch Unternehmen, die kritische Infrastruktur betreiben. Deswegen tun wir sehr viel in diesem Bereich. Aber Wirtschaftsschutz geht noch ein Stück weiter.
Was meinen Sie?
Es geht auch um Spionage. Wir sehen, dass ausländische Akteure Innovationen und Know-How aus Deutschland ausspähen, zum Beispiel im medizinischen Bereich.
Der hybride Krieg ist schwammiger Begriff. Welcher Aspekt bereitet Ihnen die größte Sorge dabei?
Es ist die Vielfalt der Bedrohungen. Wir dürfen auch die staatlich gelenkten Desinformationskampagnen nicht außer Acht lassen. Insbesondere vor Wahlen kann das eine besorgniserregende Manipulation der offenen und demokratischen Meinungsbildung bedeuten. Vor der Europawahl haben unsere Sicherheitsbehörden zusammen mit europäischen Partnern eine massive russische Einfluss- und Lügenkampagne aufgedeckt. Auch für die Bundestagswahl treffen wir die nötigen Schutzmaßnahmen. Der Verfassungsschutz hat eine Task Force eingerichtet.
In letzter Zeit häufen sich Brandanschläge, in Großbritannien, Polen, aber auch bei uns in Deutschland. Es gab in Leipzig den Brand eines DHL-Luftfrachtpakets.
Die Zunahme der Sabotageakte ist eine der virulentesten Bedrohungen für unsere Sicherheit in Deutschland. Wir haben einige Sabotagen schon verhindern können, etwa Sprengstoffanschläge auf Militäranlagen, die unsere militärische Hilfe für die Ukraine treffen sollten. Die Bedrohungslage ist angespannt. Sie sehen das auch an den beschädigten Untersee-Datenkabeln vor Finnland. Deswegen sind wir auch mit zwei Schiffen der Bundespolizei in der Ostsee. Ich habe außerdem entschieden, Spezialeinheiten der GSG-9 künftig dauerhaft an der Küste zu stationieren.
In Litauen ist ein DHL-Flieger abgestürzt, der in Leipzig gestartet war. Gibt es Hinweise darauf, dass es Sabotage war?
Nein, bisher nicht. Aber auch Deutschland hat Experten hingeschickt, um genau das zu untersuchen.
Hat Russland seine Sabotage-Aktivitäten intensiviert?
Wir registrieren eine deutliche Zunahme. Deswegen muss die kritische Infrastruktur besser geschützt werden. Dafür haben wir das sogenannte Kritis-Dachgesetz auf den Weg gebracht, damit der physische Schutz verstärkt wird. Es geht um elf Sektoren - zum Beispiel die Bereiche Energie, Transport, Verkehr und Telekommunikation.
Das Gesetz steht nun aber wegen des Ampelbruchs auf der Kippe.
Es ist wichtig, dass es noch kommt. Eine Blockade durch die Union wäre angesichts der verschärften Bedrohungslage unverantwortlich. Wenn sich die Union bewegt, dann kann das ganz schnell gehen.
Der BND warnt, dass Russland in wenigen Jahren in der Lage wäre, Nato-Gebiet anzugreifen. Wie ist es um den Zivilschutz bestellt, den Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Kriegsfall?
Wir haben in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen, um den Schutz der Bevölkerung zu verbessern. Neben neuen Warnsystemen, die direkt auf dem Handy warnen, haben wir viel Geld investiert, damit Sirenen wieder aufgebaut werden, die vorher jahrelang abgebaut wurden. Wir beschaffen außerdem gerade neue Hubschrauber für die Bundespolizei – für fast zwei Milliarden Euro. Transportfähigkeiten sind in Notlagen essenziell, gleich ob bei Naturkatastrophen oder anderen Bedrohungen. Und wir haben ein modernes Konzept für Schutzräume erarbeitet.
Braucht Deutschland neue Bunker?
Deutschland braucht einen adäquaten Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Dabei dürfen wir nicht auf alte Regelungen aus dem Kalten Krieg zurückgehen, sondern müssen uns auf moderne Bedrohungsszenarien einstellen. Das heißt, dass wir vorhandene starke Bausubstanz nutzen und die Bürgerinnen und Bürgern Schutzräume im sehr nahen Umfeld finden.
Das heißt, der Bürger soll sich selbst schützen?
Zuerst geht es um gut erreichbare Zufluchtsorte wie Tiefgaragen, U-Bahnstationen oder Keller von öffentlichen Gebäuden, die über Navigations- und Warnapps schnell zu finden sein müssen. Außerdem geben wir Hinweise, wie man mit einfachen Mitteln auch eigene Keller schützen kann.
Bis wann ist das Konzept fertig?
Wir arbeiten daran. Aber wir können Versäumnisse von Jahrzehnten nicht innerhalb von wenigen Jahren aufholen.
Telekommunikation ist auch kritische Infrastruktur. Im Mobilfunkbereich muss Huawei-Technologie aus China teilweise entfernt werden. Bei der Bahn hingegen, auch kritische Infrastruktur, sind nach wie vor Huawei-Komponenten verbaut. Kann das so bleiben?
Entscheidend ist, die kritische Infrastruktur so zu schützen, dass sie nicht von außen angegriffen, beschädigt oder lahmgelegt werden kann. Ich warne aber vor Schnellschüssen. In Großbritannien gab es nach der Umstellung der Telekommunikationsnetzwerke technische Schwierigkeiten. Das darf natürlich nicht passieren. Deswegen haben wir die Unternehmen durch Verträge verpflichtet, auf kritische Komponenten von Huawei und ZTE in den 5G-Netzen zu verzichten.
Was sollte für die Bahn gelten?
Auch die Bahn muss ihren Schutz erhöhen. Sie muss prüfen, welches Risiko von derartigen Komponenten in ihren Netzen ausgeht und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Es muss aber am Ende auch reibungslos funktionieren. Die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger muss gewährleistet bleiben.
Putin nutzt auch die Migration als Instrument der hybriden Kriegsführung. Wie macht sich das bemerkbar?
Putin schreckt nicht davor zurück, mit Menschen Druck auf andere Staaten auszuüben. Er setzt Migration als Waffe in der hybriden Kriegsführung ein. Es werden gezielt Migranten nach Belarus geflogen und dann nach Europa geschleust, um die EU zu destabilisieren. Das findet momentan an der Grenze zu Polen statt. Deswegen hat Polen auch massive Maßnahmen ergriffen, um die Grenzen zu schützen. Ich war gerade erst mit dem polnischen Innenminister dort.
Die Ukraine steht im Moment sehr stark unter Druck. Es gibt gezielte Angriffe auf die Energieinfrastruktur, offenbar auch mit dem Ziel, Städte unbewohnbar zu machen. Was kommt da im Winter auf uns zu? Kommt da womöglich eine neue Fluchtwelle?
Wir beobachten das genau. Ich stehe dazu auch im engen Austausch mit meinen Kollegen aus der Ukraine, aus Polen und Tschechien. Bisher sehen wir noch keine Anzeichen für eine größere Fluchtbewegung. Die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge bei uns ist im Vergleich zum letzten Jahr nur leicht gestiegen.
Und wenn die Menschen nicht dortbleiben?
Wenn es zu einer neuen großen Fluchtbewegung kommen sollte, dann muss es eine andere Verteilung der Geflüchteten innerhalb Europas geben. Momentan ist es so, dass Polen, Tschechien und wir 54 Prozent aller ukrainischen Geflüchteten aufgenommen haben. Das ist für uns und unsere Nachbarländer ein enormer Kraftakt.
Sind wir an der Grenze dessen, was wir stemmen können?
Wir müssen mit der Lage umgehen, dass Putin diesen Krieg mitten in Europa führt. Davor sind viele Menschen geflohen. Wir haben eine unglaubliche Welle der Hilfsbereitschaft für die ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland erlebt. Viele sind noch immer privat untergebracht.
Und trotzdem gab es und gibt es Schwierigkeiten bei der Integration vor allem in den Arbeitsmarkt.
Mit dem Job-Turbo von Arbeitsminister Hubertus Heil werden Ukrainerinnen und Ukrainer schneller in den Arbeitsmarkt integriert. Aber dennoch ist die Belastung groß durch 1,2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine und weitere, die in den vergangenen Jahren aus Syrien und Afghanistan gekommen sind. Für unsere Infrastruktur vor Ort wie Schulen und Kindergärten ist das eine echte Herausforderung.
Deswegen pocht die Union auch darauf, die Migration zu begrenzen.
Wir haben die Zahl der Asylgesuche halbiert. Unsere Maßnahmen greifen. Wir nehmen an allen deutschen Grenzen Kontrollen vor, das hat die Union auch bei viel höheren Flüchtlingszahlen nicht gemacht. Auch unsere verschärften Gesetze wirken, die Abschiebezahlen sind um mehr als 20 Prozent gestiegen. Ich habe mich gefreut, dass mein Vorgänger, Herr Seehofer, diese Erfolge der Migrationspolitik auch gewürdigt hat.
Haben Sie schon mit ihm gesprochen?
Nein, noch nicht. Aber ich werde ihn mal anrufen. Wir haben umgesetzt, was andere nur angekündigt haben. Das wird auch im Ausland so gesehen. Mein griechischer Kollege etwa ist froh, dass wir so klar gehandelt haben und viel stärker steuern.
Teile des Sicherheitspakets, das sie angesprochen haben, werden von der Union blockiert. Sie will zusätzlich die Vorratsdatenspeicherung durchsetzen. Finden Sie da noch eine Lösung?
Ich kann die Blockade von CDU und CSU bei der inneren Sicherheit überhaupt nicht nachvollziehen. Hier geht es darum, dass Mörder und Vergewaltiger durch Gesichtserkennung erkannt werden können. Das hat die Union selbst schon einmal gefordert.
Aber es fehlt die Vorratsdatenspeicherung inklusive die IP-Adressen.
Ich bin gerne bereit, mit der Union über eine rechtssichere Speicherung der IP-Adressen zu sprechen, wenn sie dem Sicherheitspaket zustimmt.
Durch die Messeranschläge von Solingen und Mannheim hat das Sicherheitsgefühl der Menschen gelitten. Gerade jetzt in der Adventszeit ist das wieder Thema. Wie sicher sind die Weihnachtsmärkte?
Wir haben nach wie vor leider eine hohe abstrakte Bedrohungslage, aber aktuell keine konkreten Hinweise auf Gefährdungen. Wir werden eine starke Polizeipräsenz sehen, dafür bin ich den Ländern sehr dankbar. Aber mit unserem Sicherheitspaket haben wir auch konkret etwas für die Weihnachtsmärkte getan: Dort gelten jetzt Waffenverbotszonen. Wer ein Messer dabei hat, muss eine Strafe bis zu 10.000 Euro befürchten.
Der Islamische Staat hat zu Anschlägen aufgerufen.
Ja, das hat er auch explizit vor der Fußball-Europameisterschaft getan. Dagegen haben wir uns erfolgreich geschützt. Aber richtig bleibt: Wir haben eine hohe abstrakte Bedrohung, der wir uns entgegenstellen.
Wir haben es auch hier mit einem neuen Täter-Typus zu tun. Mit Leuten, die sich selbst im Internet radikalisieren, etwa weil sie islamistischen Influencern folgen. Was kann der Staat dagegen tun?
Terrorpropaganda muss schneller aus den sozialen Netzwerken verschwinden. Videos und Texte, mit denen zu terroristischen Taten angestachelt, Taten verherrlicht oder Menschen bedroht werden, müssen in kürzester Zeit nach behördlicher Aufforderung gelöscht werden. Das gilt schon. Wir müssen aber auch das neue EU-Gesetz über digitale Dienste, den DSA, nachschärfen.
Was soll sich ändern?
Der DSA muss konsequenter durchgesetzt werden, damit Radikalisierung nicht durch die Algorithmen verstärkt wird. Es ist wichtig, dass die zuständige EU-Kommission hier genau hinsieht. Und bei illegaler Hasskriminalität besteht derzeit eine Regelungslücke. Hier muss der DSA nachgeschärft werden.
Der Kampf gegen Hetze kann leicht zur Einschränkung der Meinungsfreiheit werden. Ist es verhältnismäßig, eine Wohnung zu stürmen, weil jemand Ihren Kabinettskollegen Robert Habeck als „Schwachkopf“ bezeichnet?
Das entscheidet die Justiz und keinesfalls die Politik. Und dafür gelten strenge Regeln der Strafprozessordnung.
Wie geht es mit Ihnen persönlich weiter? Wollen Sie auch nach der Wahl Innenministerin bleiben?
Ich bin leidenschaftliche Innenpolitikerin und habe vieles bewirken können. Natürlich möchte ich das dann auch vollenden, etwa die Umsetzung des neuen europäischen Asylsystems, mit dem wir für einen starken Schutz der Außengrenzen und eine faire Verteilung in Europa sorgen.
Da Sie noch so viel tun wollen, hätten Sie ein besseres Gefühl, wenn die SPD mit Boris Pistorius in den Wahlkampf gezogen wäre?
Wir haben mit Olaf Scholz einen starken Bundeskanzler in schwierigen Zeiten. Und er wird uns erfolgreich in die Wahl führen.