Ein Nachruf auf Dr. Wolfgang Schäuble

Typ: Namensartikel , Datum: 22.01.2024

Bundesinnenministerin Nancy Faeser anlässlich des Todes ihres Amtsvorgängers in der Welt am Sonntag

Welt am Sonntag, 21.01.2024

Ein ganzes Leben bringt man nur schwer in einem Wort auf den Punkt. Für ein Leben wie das meines verstorbenen Amtsvorgängers, Dr. Wolfgang Schäuble, gilt das erst recht. Bei allen politischen Unterschieden zwischen mir, der hessischen Sozialdemokratin, und ihm, dem badischen Konservativen, verdient das, was er in den vielen Jahren seines Wirkens für unser Land geleistet und erreicht hat, höchste Anerkennung. Schäuble selbst hat sich einmal sinngemäß als „unbequem, aber loyal“ charakterisiert. In den Großen Koalitionen der jüngeren Vergangenheit war er gegenüber der SPD beides. Persönlich verbinde ich mit ihm vor allem das Wort Verantwortung. Er hat sie immer wieder übernommen – nicht zuletzt aus der tiefen Überzeugung heraus, dass es nicht gut für unsere Demokratie ist, wenn wir uns zu gemütlich in ihr einrichten.

"Unsterblichkeit ist uns glücklicherweise nicht gegeben", schrieb Schäuble 2021 in seinem Buch "Grenzerfahrungen". Für ihn lag in der unausweichlichen Endlichkeit der menschlichen Existenz eine Aufforderung, fast schon eine Verpflichtung, das eigene Leben verantwortungsvoll, zupackend und bewusst zu gestalten. Er selbst ist diesem Anspruch konsequent gefolgt – als Vorsitzender seiner Partei, der CDU, und ihrer Bundestagsfraktion, als Mitglied des Bundeskabinetts unter Helmut Kohl und Angela Merkel, in seinem höchsten Staatsamt als Präsident des Deutschen Bundestages.

Seine politische Vita ist zugleich eine Reise durch gut ein halbes Jahrhundert bundesrepublikanischer Geschichte: Als 30-Jähriger wurde der Jurist Schäuble 1972 das erste Mal in den Bundestag gewählt. Damals stritt die Republik heftig über die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, die "Wandel durch Annäherung" schaffen sollte. 18 Jahre später war er es, der – an der Spitze des Bundesinnenministeriums – das Ende der deutschen Teilung besiegelte: Mit dem Einigungsvertrag, dessen Ausarbeitung er, als juristischer Baumeister des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, unermüdlich vorantrieb. Ein Unterfangen, für das es kein Vorbild und keine Generalprobe gab. Trotz der gewaltigen Zahl an zu klärenden Fragen gelang es Schäuble, die Verhandlungen nach nur sieben Wochen zu einem Abschluss zu bringen. Ein handwerkliches Glanzstück und ein historischer Moment, der auch in meinem Ministerium sichtbar verewigt ist: Mit einer großformatigen Fotografie. Sie zeigt den Handschlag mit seinem DDR-Pendant Günther Krause – nach der Unterzeichnung des Dokuments im Kronprinzenpalais Unter den Linden.

Die Deutsche Einheit wurde am 3. Oktober 1990 Wirklichkeit, ein "historischer Glücksfall für die Deutschen in einer globalen Epochenwende", wie Schäuble diese Zeit später charakterisiert hat. Auf das nationale Glück folgte für ihn nur wenige Tage später der schwerste persönliche Einschnitt – im badischen Oppenau, wo ihn ein geistig verwirrter Mann mit mehreren Schüssen lebensgefährlich verletzte.

Mit eiserner Disziplin kämpfte sich Schäuble zurück. Was eigene Grenzen und die eigene Gesundheit anging, zeigte er immer wieder: Er konnte schonungslos sein, auch im Umgang mit sich selbst. Scharfsinnig, bisweilen schneidend. Ein erklärter Verfechter von Maß und Mitte, der sich selbst keine Mittelmäßigkeit erlaubte. Einer, der um seine Stärken wusste und mitunter Freude daran hatte, sie zu demonstrieren. Aber zugleich ein Mensch, der für seine Überzeugungen stand, auch wenn sie unbequem oder kontrovers waren. Und einer, der selbst überzeugen konnte: Nicht nur, als der Deutsche Bundestag 1991 die Frage diskutierte, ob die Bundeshauptstadt zukünftig Bonn oder Berlin sein sollte. Auch diese, damals von Schäubles rhetorischer Kraft herumgerissene, Entscheidung prägt nach wie vor das Gesicht der heutigen Bundesrepublik.

Wolfgang Schäuble hat in seinem Leben viele Debatten angestoßen, Ereignisse beeinflusst und Entscheidungen gefällt, oft im Angesicht heftigen Gegenwinds. Das gilt nicht zuletzt für seine zweite Amtszeit an der Spitze des Bundesministeriums des Innern, 2005 bis 2009. In dieser Zeit profilierte er das Haus – auch gegen massive Einwände aus Politik und Zivilgesellschaft – im Sinne maximaler öffentlicher Sicherheit: So trat Schäuble vehement für ein neues Luftsicherheitsgesetz ein, das es im Notfall ermöglichen sollte, entführte Flugzeuge abzuschießen, die wie am 11. September 2001 als Terrorwerkzeuge genutzt werden könnten Das Bundesverfassungsgericht schob dem einen Riegel vor. Wo Schäuble aus Sorge um die Leistungsfähigkeit der Sicherheitsbehörden dafür warb, ihre technischen und rechtlichen Befugnisse und Möglichkeiten auszuweiten, war das für viele eine Provokation. Gerade aus jetziger Perspektive verstehe ich sehr gut, warum er so entschieden hat.

Zwar verstand er sich selbst als konservativ, aber nie als Verwalter des Stillstands, sondern als Gestalter und Wahrer von Ordnung und Stabilität. Beharrlich warnte er vor einer in Behäbigkeit erstarrenden Republik, mahnte mehr Dynamik an und wies immer wieder auf den Wert der europäischen Integration für Frieden und Wohlstand hin. Obwohl er die Konfrontation nicht scheute, wusste er zugleich, dass es auch Konsens und Dialog braucht. So wurde unter ihm die Deutsche Islam Konferenz ins Leben gerufen, um für den deutschen Staat und die hier lebenden Muslime ein Forum zum kontinuierlichen Austausch zu etablieren. Eine weitere Initiative, die bis heute fortwirkt.

"Das Leben ist auf Bewegung angelegt, nicht auf Stillstand", hat Wolfgang Schäuble einmal gesagt. Dass er – neben so viel Politischem – auch viele Menschen bewegt hat, zeigen die zahlreichen Eintragungen im Kondolenzbuch, das wir im Foyer des Ministeriums ausgelegt haben.

Dr. Wolfgang Schäuble wird in Erinnerung bleiben: Als Mensch und als Persönlichkeit der Zeitgeschichte, als kluger, kultivierter und entschlossener Streiter für ein starkes Europa, einen starken Staat und eine starke Demokratie. Diesen Teil seines Vermächtnisses trage ich gerne weiter: Wir müssen mehr denn je Verantwortung übernehmen und einstehen für das, was uns stark macht – für Sicherheit, Zusammenhalt und Demokratie im 21. Jahrhundert.