"Ich will nicht, dass sich Leute eingeschüchtert fühlen"

Typ: Interview , Datum: 14.12.2022

Nancy Faeser ist die erste Bundesinnenministerin. Was macht sie anders als all ihre Vorgänger?

DIE ZEIT

Frau Faeser, Sie haben von einem »Abgrund terroristischer Bedrohung« gesprochen. Hatte die Bedrohung wirklich die Qualität eines Staatsstreichs, wie ihn die USA am 6. Januar 2021 in Ansätzen erlebt haben?

Wir haben es nicht mit harmlosen Spinnern zu tun, sondern mit Terrorverdächtigen. Das sieht man schon daran, dass der Generalbundesanwalt ermittelt, der das nur in Fällen schwerster Kriminalität gegen den Staat tut. Niemand sollte diese Bedrohung verharmlosen. Es muss nicht bis zum Staatsstreich gehen, um wirklich gefährlich zu sein. Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde 2019 auf seiner Terrasse erschossen. Dieses rechtsterroristische Attentat richtete sich gegen ihn als Vertreter von Staat und Politik.

Neben einem Prinzen, einer Richterin, ehemaligen Soldaten und Polizisten, einem Tenorsänger und einem Spitzenkoch gehört auch eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der AfD zu den mutmaßlichen Verschwörern. Die Partei spielt die Bedeutung der Umsturzpläne herunter. Ist die AfD der politische Arm der Reichsbürger-Szene?

Das unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die AfD vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die Ermittlungen werden zeigen, welche Querverbindungen es gegeben hat und welche sich womöglich noch auftun. Der Verfassungsschutz wird die Partei weiter im Blick behalten, Verbindungen auch in den Landesparlamenten aufdecken, genauso wie zu anderen rechtsextremen Gruppen.

Der Verfassungsschutz beobachtet die AfD bereits seit Längerem. Ist es Zeit für einen nächsten Schritt?

Dabei geht es streng nach der Sachlage: Wenn sich Hinweise erhärten, dass hier an der Vorbereitung terroristischer Handlungen mitgearbeitet wurde, müssen die Sicherheitsbehörden handeln. Und dann müssen wir auch als wehrhafte Demokratie darüber debattieren, welche weiteren Konsequenzen notwendig sind.

Würde in einem solchen Fall auch ein Parteiverbot in Betracht kommen?

Die Schwelle dafür ist in unserem Rechtsstaat zurecht sehr hoch, aber auch das sieht unser Grundgesetz als äußerstes Mittel vor.

Die zahlreichen ehemaligen und aktiven Polizisten und Soldaten unter den Verdächtigen werfen einmal mehr die Fragen auf: Sind die Sicherheitsbehörden in Wahrheit Unsicherheitsbehörden?

Dass unsere Sicherheitsbehörden die Demokratie verteidigen, haben sie in den letzten Tagen bewiesen. Aber natürlich geht es um ernstzunehmende Fälle. Für mich ist entscheidend, dass wir sehr viel schneller als bislang dafür sorgen, dass Extremisten aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden. Wir werden deshalb das Disziplinarrecht ändern, damit Behörden selbst handeln und Extremisten entlassen können. Bislang ist eine Disziplinarklage beim Verwaltungsgericht notwendig, was zu langen Verfahren führt.

Bewerben sich Menschen mit einem Hang zum Autoritären besonders gerne bei Sicherheitsbehörden – oder fördern die Behörden solches Denken?

Es gibt Tendenzen bei Extremisten, sich Sicherheitsberufe auszusuchen, in denen sie an der Waffe arbeiten können. Deswegen gibt es sehr sorgfältige Auswahlprozesse, die in den letzten Jahren noch verschärft worden sind. Und deswegen legen wir so viel Wert darauf, in der Ausbildung ein umfassendes Demokratieverständnis zu vermitteln. Ich habe auch deshalb in diesem Jahr eine Vereinbarung mit der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem getroffen, um bei der Ausbildung unserer Bundespolizisten zu kooperieren.

Frau Faeser, lassen Sie uns über Ihr Amtsverständnis sprechen. Ihre Vorgänger haben sich oft als schwarze oder im Fall von Otto Schily als rote Sheriffs verstanden. Würden Sie sagen, für Sie ist Innenpolitik eher Gesellschaftspolitik?

Natürlich ist für mich das Wichtigste die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Die organisierte Kriminalität zu bekämpfen, ist deshalb im Moment einer meiner Arbeitsschwerpunkte. Hier stehe ich für harte law and order-Politik. Aber mir geht es genauso um soziale Sicherheit. Deshalb sind die fast 300 Milliarden schweren Entlastungspakete dieser Koalition jetzt in der Krise so wichtig. Wir halten unser Land zusammen. Sicherheit ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Genauso habe ich aber den sogenannten Fahnen-Erlass geändert, so dass die Regenbogenflagge zweimal im Jahr gehisst werden kann.

Die Regenbogen-Fahne steht für Diversität und sexuelle Selbstbestimmung.

Wir haben für unseren Einsatz gegen Diskriminierung sogar einen Preis bekommen, darauf bin ich stolz. Ich habe aber auch auf andere Themen einen anderen Blick, Gewalt gegen Frauen zum Beispiel oder – was mir als Mutter sehr wichtig ist – der Kampf gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Ich habe schon gemerkt, dass es im Haus erst mal ein bisschen Erstaunen ausgelöst hat, dass da plötzlich eine Frau an der Spitze ist. Das Schöne ist aber: Das Haus ist mitgegangen.

Sie arbeiten derzeit an einer großen Reform der Migrationspolitik. Ist das auch ein Thema, bei dem Sie gesellschaftspolitisch steuern wollen?

Ein modernes Land braucht eine moderne Migrationspolitik. Was Länder wie Kanada, die USA und Australien schon längst machen, hat Deutschland immer verweigert, weil konservative Kräfte sich nicht eingestehen wollten, dass wir ein Einwanderungsland sind. Das Ergebnis ist, dass wir immer noch Versäumnisse bei der Integration der Menschen aufholen müssen. Und auf dem Arbeitsmarkt haben wir zum Teil dramatische Probleme, weil uns qualifizierte Kräfte fehlen.

Ihr Vorschlag, die Fristen für die Einbürgerung von Ausländern herabzusetzen, stößt zum Teil auf harte Ablehnung. Kritiker finden, so ein Schritt sollte erst am Ende eines Integrationsprozesses stehen und kein Mittel der Integration sein.

Natürlich muss die Einbürgerung am Ende des Integrationsprozesses stehen – und die Kritiker wissen auch, dass das weiterhin genau so sein wird. Aber es ist auch ein starker Anreiz, sich einzubringen und Deutschland zu seinem Land zu machen. Menschen gehen in die USA, um amerikanische Staatsbürger zu werden.

Dasselbe wollen sie für Deutschland?

Ja, ich will, dass Menschen sich aus voller Überzeugung zu unserem Land und unseren Werten bekennen. Wir sollten Menschen, die das tun, weniger Hindernisse in den Weg legen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. Wer einen Beitrag dazu leistet, dass es unserer Gesellschaft gut geht, dass Deutschland stark bleibt – der soll diese Chance bekommen. Mehr Integration geht doch gar nicht! Andere Länder in Europa sind hier längst weiter.

Regelmäßig kündigen Politiker an, künftig konsequenter abzuschieben, dabei werden Jahr für Jahr weniger Ausreisepflichtige abgeschoben. Wäre es nicht ehrlich, zu sagen, dass Abschiebungen schlicht nicht funktionieren?

Ich bin überzeugt, dass wir auch hier Fortschritte erzielen können. Und ich habe, ganz praktisch, schon mehr dafür getan als meine Vorgänger. Zum Beispiel habe ich Gesetze auf den Weg gebracht, um für deutlich schnellere Asylverfahren zu sorgen und die Abschiebehaft bei Straftätern zu verlängern. Gleichzeitig verhandele ich intensiv mit meinen europäischen Amtskollegen, damit wir endlich mit dem europäischen Asylsystem vorankommen. Viele der Menschen, die in Deutschland kein Bleiberecht haben, sind über andere europäische Staaten eingereist, hier brauchen wir konsequentere Rückführungen. Ein weiterer Schwerpunkt sind Migrationsabkommen mit Drittstaaten. Ein solches haben wir letzte Woche mit Indien geschlossen, und das enthält zweierlei: Wir fördern die Mobilität von Studierenden, Auszubildenden und Fachkräften. Gleichzeitig sorgen wir bei denen, die nicht bleiben dürfen, für Rückführungen nach klaren Verfahren.

In Illerkirchberg bei Ulm ist kürzlich ein 14-jähriges Mädchen von einem Asylbewerber erstochen worden. In der Folge wurde darauf hingewiesen, dass Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit anteilig deutlich mehr Straftaten begehen, und dass auch Bereich der Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit. Was antworten Sie Menschen, die sagen: Wäre dieser Täter nicht nach Deutschland gekommen, würde ein 14-jähriges Mädchen noch leben?

Zuallererst empfinde ich tiefes Mitgefühl mit der Familie des Mädchens, das durch diese furchtbare Tat aus dem Leben gerissen wurde. Ich hoffe sehr, dass das andere Mädchen, das bei der Tat verletzt wurde, wieder gesund wird. Es würde manchen gut zu Gesicht stehen, bei einer solchen Tat zunächst an die Opfer zu denken und nicht an ihre eigene politische Agenda. Aber natürlich verstehe ich das Gefühl ganz vieler Menschen, das hier jemand unseren Schutz missbraucht. Das erschüttert auch mich sehr. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht zulassen, dass ein solches Verbrechen zu einem Generalverdacht gegen andere Asylbewerber führt. Klar ist: Wir müssen hart gegen Gewalttäter vorgehen. Das umfasst die Strafverfolgung, aber auch konsequente Abschiebungen. Und wir brauchen ein eng abgestimmtes Zusammenwirken aller Akteure, von Unterkünften bis zur Polizei, um Gewaltbereitschaft möglichst im Vorfeld zu erkennen und Taten zu verhindern.

Hinter Ihnen im Regal steht die One-Love-Binde, die Sie beim WM-Spiel der Fußball-Nationalmannschaft gegen Japan im Stadion in Doha getragen. Die katarischen Gastgeber waren sehr gekränkt. Hatten Sie das nicht erwartet?

Die One-Love-Binde steht für Frauenrechte, für die Rechte Homosexueller, gegen jegliche Diskriminierung. Mir war klar, dass ich damit polarisiere. Aber das war vor allem ein Zeichen gegen das Verhalten der FIFA. Hier für unser Land Haltung zu zeigen, war mir unglaublich wichtig. Ich hätte es mir als Sportministerin sehr leicht machen und das Ganze von Deutschland aus kritisieren können. Stattdessen bin ich nach Katar gereist und habe die Menschenrechtslage und die Ausbeutung der Wanderarbeiter, die die Stadien gebaut haben, bei Premierminister Al Thani und FIFA-Präsident Infantino thematisiert.

Sie würden die Binde wieder tragen?

Ja. Die FIFA muss sich verändern. Dass sie den Klubs kurz vor dem Start das Tragen der Armbinden verboten hat, ist unterirdisch.

Als Bundesinnenministerin haben Sie es mit vielen Männern zu tun, zu deren Selbstbild es gehört, harte Hunde zu sein. Der Chef der Bundespolizei zum Beispiel, Dieter Romann, ist bekannt dafür, dass er der früheren Kanzlerin Angela Merkel das Leben schwer gemacht hat. Sie hat er bei Amtsantritt mit einer Reiterstaffel begrüßt. War das auch eine Show of Force? So ein bisschen, wie Putin, der Merkel einen Hund geschickt hat, weil er wusste, sie hat Angst vor Hunden?

Vielleicht wollte er auch nur die Vielfalt der Bundespolizei zeigen. Und überhaupt: Mir jagt niemand so schnell Angst ein. Ich habe den Pferden jedenfalls Möhren gegeben und sie gestreichelt. Ich bin Reiterin. Für mich ist eine Reiterstaffel etwas Tolles! Und die Bundespolizei ist mir sehr wichtig. Sie ist ein Garant für die innere Sicherheit, nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine gilt das umso mehr. Die Bundespolizei hat mit ihrer Arbeit viel dazu beigetragen, dass wir eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, überwiegend Frauen und Kinder, schnell und unbürokratisch aufgenommen haben. Und sie ist auch bei der Durchsetzung von Sanktionen gegen Russland gefragt.

Sie hatten nie das Gefühl, sich bewähren oder gegen verschränkte Arme anarbeiten zu müssen?

Nein, darüber bin ich weg. Als ich mit Innenpolitik in Hessen angefangen habe und auch dort die einzige Frau weit und breit war, habe ich gedacht, ich müsse immer im Hosenanzug und sehr tough auftreten, in der Polizeistation genau wie im Plenum des Landtags. Bis mir Leute sagten, dass ich so immer wahnsinnig streng wirken würde. Und ich dachte: Nein, das bin ich ja gar nicht. Ich kann sehr durchsetzungsstark sein, aber ich will nicht, dass Leute sich eingeschüchtert fühlen. Seitdem bin bewusst auch mal im Rock oder Kleid zur Polizei gegangen. Als ich Bundesinnenministerin wurde, haben die meisten schnell gemerkt, dass ich vom Fach bin. In Hessen war ich viel mit der Polizei unterwegs. Ich habe Nachtschichten gemacht. Ich kenne die Polizei wirklich aus dem Inneren heraus.

Umso mehr stellt sich die Frage, ob sie noch lange im Amt sein werden. Sie sind als Spitzenkandidatin der SPD im hessischen Landtagswahlkampf im Gespräch. Wie werden Sie entscheiden?

Für mich ist es eine große Ehre, das Amt der Bundesinnenministerin ausüben zu dürfen, und auch die erste Frau in diesem Amt zu sein. Das macht mir sehr viel Freude und ich habe sehr viel vor. Zugleich bin ich in meiner hessischen Heimat verwurzelt. Die Entscheidung werden wir in der hessischen SPD nächstes Jahr im Februar treffen.

Das klingt, als wären Sie bloß politische Verfügungsmasse. Sie könnten doch sagen: Ich bleibe Innenministerin. Muten Sie diesem Haus nicht arg viel zu, indem sie ihre Mitarbeiter und die Öffentlichkeit so lange im Unklaren lassen?

Nein. Ich glaube, es ist offensichtlich, dass ich mit voller Kraft Bundesinnenministerin bin.