"Menschenrechte müssen verbindlich sein"

Typ: Interview , Datum: 02.11.2022

Innenministerin Nancy Faeser im Interview mit der FAZ.

FAZ

Empfehlen Sie deutschen Fans jetzt, zur Fußball-WM nach Qatar zu reisen?

Für mich war wichtig, von der katarischen Regierung die Garantie zu bekommen, dass alle Fans bei dieser WM sicher sind. Jeder muss sich frei und ohne Angst bewegen können – egal woher er kommt, egal, an wen er glaubt, egal, wen er liebt. Diese Sicherheitsgarantie hat mir der Premierminister von Katar gegeben, der gleichzeitig als Innenminister die Verantwortung für die Sicherheit dort trägt. Das ist eine wichtige Aussage. Es geht um Rechte von homosexuellen und queeren Menschen, aber ja auch um die Frage, ob Jüdinnen und Juden mit Kippa beruhigt dort hinreisen können. Es ist ein viel weiteres Menschenrechtsthema, das auch den Schutz von Frauen oder den Schutz vor Rassismus umfasst. Das sind Fragen, die sich viele Fans stellen. Am Ende muss aber natürlich jeder für sich entscheiden, ob er fliegt.

Für die WM gilt nun für den Zeitraum von vier Wochen das quatarische Recht nicht, es wird nicht umgesetzt. Aus juristischer Sicht kann man damit doch nicht zufrieden sein.

Ich habe klar gesagt: Es ist nicht alles gut. Katar hat erste Reformschritte gemacht, aber natürlich ist der Weg noch nicht beendet. Bei den Rechten der Wanderarbeiter sehen auch Gewerkschaften einige Verbesserungen. Diese müssen sich in der Lebensrealität noch stärker auswirken. Die Gewerkschaftsvertreter, mit denen ich in Katar gesprochen habe, brauchen unsere Unterstützung. Wir müssen weiter im Dialog mit Katar bleiben, um den Weg zu weiteren Reformen zu begleiten – gerade auch in der Zeit nach der WM.

Was garantiert, dass es nach vier Woche nicht vorbei ist mit dem Reformprozess? Auch Russland hat seine Gesetze für vier Wochen nicht umgesetzt im Jahr 2018. Die russische Politik seither ist bekannt.

Ich habe in meinen Gesprächen Reformwille in maßgeblichen Teilen der katarischen Regierung wahrgenommen. Solange das durch gesetzgeberische Handlungen unterlegt ist, kann man die Hoffnung haben, dass es über das Datum des Endspiels hinausgeht. Es wäre großartig, wenn ein Sportereignis dazu beitragen würde, positive Entwicklungen voranzubringen. Sie sagen zu Recht, dass es das nicht immer gegeben hat …

… eigentlich fast nie, wenn man auf die Austragungen der vergangenen zehn, 15 Jahre schaut.

Ohne den Sport politisch zu überfrachten: Große Sportereignisse haben Wirkung gehabt, nach dem Zweiten Weltkrieg, auch nach der Wiedervereinigung. Auch jetzt gibt es Zeichen, dass Katar sich auf den Weg gemacht hat, gerade im Vergleich zu anderen Staaten in der Region. Wenn man sieht, dass Katar das einzige Land weit und breit ist, in dem es einen Mindestlohn gibt und in dem Gehälter, die nicht gezahlt wurden, von der Regierung übernommen werden, dann macht mir das zumindest Mut, dass die Reformen über die Zeit der WM hinaus gehen.

Sie nennen staatliche Zusagen und Maßnahmen. Müsste die FIFA nicht, schon um den Vorwurf zu entkräften, die FIFA interessiert sich für Einnahmen und die vier Wochen des Turniers, ihren eigenen Entschädigungsfonds einrichten, wie das in den eigenen Richtlinien vorgesehen ist?

Absolut. Die FIFA hat die Regelung dafür geschaffen. Das ist eine Selbstverpflichtung, Menschen zu entschädigen, die durch ein Turnier und dessen Vorbereitungen Schaden genommen haben. Das ist ein Fortschritt. Die FIFA sollte das umsetzen und einen Entschädigungsfonds für die Wanderarbeiter und ihre Familien auflegen.

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung war nicht nach Qatar gereist und hatte gesagt, zum jetzigen Zeitpunkt sei es schwierig, dort kritische Gespräche zu führen. Können Sie jetzt, nach Ihrer Rückkehr, nachvollziehen, dass sie diese Haltung hat?

Frau Amtsberg und ich sind uns absolut einig bei der Beurteilung der Menschenrechte. Sie musste entscheiden zu einem Zeitpunkt, als nicht klar war, ob ich überhaupt nach Katar reisen würde. Das war nach der Einbestellung des deutschen Botschafters am vergangenen Freitag aufgrund meiner kritischen Aussagen zur Menschenrechtslage.

Ihre Aussage zur Vergabe der WM, die so viel Kritik der qatarischen Seite hervorgerufen hatte, dass die Vergabe der WM „total schwierig“ für die Bundesregierung sei, lässt sich auch mit Blick auf die Zukunft verstehen. Wie lässt sich eine solche Vergabe in Zukunft verhindern?

Meine Haltung habe ich vor der Reise genauso klar gesagt wie auch vor Ort: Menschenrechte müssen künftig verbindliche Vergabestandards für große Sportevents sein. Wir sind nicht im luftleeren Raum. Wir müssen uns in Deutschland diesen Kriterien auch selbst stellen. Wir sind Ausrichter der Fußball-EM 2024. Auch da müssen wir sicherstellen, dass es keine Ausbeutung mit Billiglöhnen etwa bei Sicherheitsdiensten oder Servicekräften gibt. Ein anderes sehr wichtiges Thema ist sexualisierte Gewalt im Sport. Erschreckend viele Sportlerinnen und Sportler erleben traumatisierende Gewalterfahrungen. Deshalb bauen wir ein Zentrum Safe Sport auf. Am Donnerstag gründen wir auf der Sportministerkonferenz in Mainz den Trägerverein von Bund und Ländern für eine unabhängige Stelle, die Betroffene von sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt psychologisch und juristisch berät. Diese Ansprechstelle wird Anfang 2023 starten.

Und schließlich gibt es noch ganz andere Themen: das Selbstbestimmungsrecht, Leistungsdruck bis hin zu psychischer Gewalt im Sport. Was ist erlaubt? Wo sind die Grenzen? Natürlich wollen wir Erfolg im Sport. Aber nicht um jeden Preis. Da gibt es auch in Deutschland einiges aufzuarbeiten.

Gehen Sie von einem sehr großen Dunkelfeld an Fällen in der Vergangenheit aus?

Ja.

Die Gründung des Trägervereins für das Zentrum ist Teil der Menschenrechtsstrategie der Bundesregierung im Sport. Damit gehen Sie mit Vorgaben in einen Bereich, bei dem der Sport häufig auf seine Autonomie pocht.

Wir ziehen hier mit dem Sport an einem Strang: Jeder Fall von sexualisierter Gewalt kann, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, das ganze Leben beeinträchtigen. Und jeder Vorfall erschüttert das Vertrauen in den Sport zutiefst. Wir müssen mehr Fälle ans Licht bringen und Betroffenen helfen. Es geht hier um Straftaten, die müssen hart geahndet werden. Es ist das ureigenste Interesse eines jeden Sportverbandes hier alles zu tun, um die Athletinnen und Athleten zu schützen. Insofern trägt der Sport natürlich die Verantwortung, hinzusehen, aufzuklären und zu handeln. Wer sich selbst oder seine Kinder einem Trainer oder einem Sportverein anvertraut, der muss auf einen absolut gewaltfreien Umgang vertrauen können.

In Bezug auf Vergaben von Großereignissen: Sollte das, die Bekämpfung sexualisierter Gewalt, ein weiteres Kriterium sein?

Natürlich. Der Schutz vor jeglicher Form von Gewalt ist eines der grundlegendsten Rechte jedes Menschen. Nochmals: Menschenrechte müssen verbindliche Vergabekriterien sein. Die Diskussion um Ausrichterstaaten muss bereits im Vergabeprozess geführt werden.

Der Fußball hat eine Historie, dem höchsten Bieter die Türen zu öffnen.

Ist es nicht Zeit, das zu ändern? Ich finde schon. Ein weiteres Kriterium ist die Nachhaltigkeit und Klimaneutralität. Nachhaltigkeit heißt nicht, dass man in der Lage ist, sehr schnell sämtliche Gebäude aufzubauen, die einen supertollen Zweck erfüllen für vier Wochen, dann aber wieder abgerissen werden. Nachhaltig heißt auch: Gibt es so etwas schon? Nutzen wir es schon oder bauen wir es um?  Nachhaltigkeit hat auch eine soziale Dimension. Sportgroßveranstaltungen sollen begeistern. Sie verbinden Menschen, sie tragen ihren Teil zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Das müssen unsere Maßstäbe für die Fußball-EM 2024 in Deutschland sein.

Qatar behauptet auch, die WM sei nachhaltig, was angesichts der Zahl der täglichen Zubringerflüge aus Nachbarländern mangels Hotelkapazitäten schon verwegen ist.

Immerhin setzen sie stärker auf Elektromobilität im öffentlichen Nahverkehr. Die vielen Flüge sind schwierig, klar. Die WM findet praktisch erstmals nur in einer Großstadt statt.

Haben Sie Verständnis, dass Fans es absurd finden, dass für ein Turnier auf der Fläche der Hälfte Hessens Flüge wie bei der WM in Brasilien notwendig werden?

Ich habe für jeden Verständnis. Es gibt nicht nur Schwarzweiß: hingehen oder nicht. Ich respektiere, wenn Fans dort hinreisen und sagen, die WM ist für sie das größte. Genauso respektiere ich, wenn Leute sagen: auf keinen Fall! Ich respektiere den Wirt, der Public Viewing anbietet und den, der sagt: möchte ich diesmal nicht.

Auch die Fans, die in Bundesligastadien gegen die WM plakatieren?

Absolut. Es ist nicht an mir, das zu beurteilen, um Gottes Willen.

Wie kann die Politik in Deutschland und anderen interessierten Staaten Einfluss nehmen auf die FIFA, dass die eigenen Statuten und Regularien einhält mit Blick auf die Vergabe?

In dem wir das öffentlich diskutieren und so politischen Druck machen. Die Verbände haben begonnen, das zu verstehen. Die Vergabekriterien wurden verändert. Öffentlicher Druck ist für FIFA, UEFA und IOC ein harter Fakt. Sie müssen sich viel stärker öffentlich rechtfertigen als früher - und das ist gut so. Ich bin froh, dass der DFB Kriterien entwickelt und jetzt bei der FIFA darauf pocht, dass sie umgesetzt werden.

Bei der UEFA sind Sie in Bezug auf Belarus und einen Ausschluss von der EM-Qualifikation nicht weitergekommen.

Ich habe die UEFA aufgefordert, nicht nur Russland wegen des brutalen, menschenverachtenden Kriegs gegen die Ukraine auszuschließen, sondern auch Belarus als wesentlichen Unterstützer der russischen Führung. Dem ist die UEFA nicht gefolgt. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass auch der Sport diesen verbrecherischen Krieg mit aller Klarheit verurteilen und Konsequenzen ziehen muss.

Es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass politische Fragen immer mehr in die Gemengelage sportlicher Großereignisse hineindrängen. Ist das eine gute Entwicklung?

Jetzt in Katar sehen wir ja, wie sich die Augen der Welt auch auf die Menschenrechtslage richten. Das ist gut. Aber diese Debatte muss in Zukunft eben viel früher, bei der Vergabeentscheidung, geführt werden.

Die Diskussion wird immer stärker werden, wenn das Ereignis bevorsteht.

Ja, aber ich möchte mit klaren Kriterien dazu beitragen, dass es bei der Vergabe eine größere Rolle spielt. In der breiten Öffentlichkeit tut es das nicht, da gibt es Jahre vor einem großen Turnier noch keinen Aufschrei.

Was kann Deutschland ansonsten tun?

Es ist wichtig, dass Deutschland beim Austragen der Europameisterschaft sehr auf diese Themen achtet, genau hinschaut: Wer arbeitet auf Baustellen? Wie sind die Lieferketten? Wer wird wie bezahlt?

Hat Deutschland ausreichende Schutzkonzepte, was Aufsicht auf Baustellen angeht?

Auch wir müssen darauf achten, dass der hohe Arbeitsschutz, der bei uns gilt, eingehalten wird. Und dass ordentliche Löhne gezahlt werden und anständige Arbeitsbedingungen gelten.

Die EM ist rund eineinhalb Jahre entfernt. Lässt sich das so schnell exemplarisch aufziehen?

Die Vorbereitung läuft schon lange und sehr intensiv, vor allem auch die enge Zusammenarbeit mit den Ländern und Städten, in denen in Deutschland die Spiele ausgetragen werden. In der Steuerungsgruppe mit der UEFA stimmen wir uns eng ab. Die UEFA und der DFB sind Veranstalter. Aber wir haben sehr klare Vorstellungen, die wir natürlich einbringen.

Wie präsentieren Sie das der FIFA, ohne dass es heißt, die Deutschen wollen die Welt belehren?

Das Beste ist, einfach mit gutem Beispiel voranzugehen. Da geht es nicht darum, irgendjemanden zu belehren, sondern unseren eigenen Ansprüchen in Sachen Nachhaltigkeit gerecht zu werden.

Ein wesentliches Problem im europäischen Fußball ist Rassismus. Was kann Deutschland bei der EM in der Hinsicht tun?

Indem wir Rassisten konsequent die rote Karte zeigen. Gerade wir müssen hier vorbildlich sein. Wir müssen alle – von der Polizei bis zu den Volunteers – sensibilisieren für jede Form von Rassismus und Diskriminierung. In der Polizeiausbildung ist das ein sehr wichtiges Thema. Bei der Europameisterschaft wird auf uns geschaut werden. Rassismus darf in unseren Stadien keinen Platz haben. Wir werden alles tun für ein weltoffenes, großartiges Turnier in Deutschland.