Religionsfreiheit im Zeichen der Corona-Pandemie – Ein Beispiel gelebter Verfassung
Namensartikel 03.05.2020
Bundesinnenminister Seehofer dankt den Religionsgemeinschaften für ihre verantwortliche und konstruktive Haltung trotz der Einschränkungen zur Eindämmung von COVID-19.
Bundesinnenminister Horst Seehofer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Die Herausforderung dieser Pandemie ist, dass es keine historischen Vorbilder für unsere politischen Entscheidungen gibt. Wir können nicht abwarten, bis wir gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über das Virus haben. Die von uns vorzunehmenden Interessenabwägungen sind komplex und werfen schwerwiegende ethische Fragen auf. Wir müssen die Maßnahmen in kürzester Zeit treffen und ständig an die sich dynamische Lage anpassen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Ärmel hochzukrempeln und nach bestem Wissen und Gewissen auf Sicht zu fahren.
Das Zwischenziel haben wir jedenfalls erreicht: Die Pandemie in Deutschland ist zunächst eingedämmt. Die Kapazitäten des Gesundheitssystems haben bislang ausgereicht. Wir haben das Leben besonders gefährdeter Personengruppen geschützt. Wir haben insgesamt keine Übersterblichkeit. Wir haben die Ausbreitung des Virus verlangsamt.
Alle Maßnahmen der vergangenen Wochen greifen jedoch massiv in die Freiheitsrechte jedes Einzelnen ein. Das gesellschaftliche, religiöse und wirtschaftliche Leben leidet erheblich. Der Schaden ist immens. Die berechtigte Frage lautet daher: Ist der Preis zu hoch? Handeln wir verhältnismäßig? Und wie weit können wir Lockerungen vorsehen?
Die zentrale Erkenntnis ist jedoch, dass unsere parlamentarische Demokratie und unser föderaler Rechtsstaat krisenfest sind. Unserem auf Ausgleich bedachten Gemeinwesen wird oft nachgesagt, es sei langsam und träge. In der Coronakrise erweist es sich als handlungsfähig und wirksam: Hilfsgelder werden ausgezahlt, Krankenhauskapazitäten werden erweitert und alle Versorgungsgüter sind verfügbar.
Die Effizienz der Regierungen in Bund und Ländern geht dabei nicht zu Lasten der parlamentarischen Demokratie. Die Abstimmungsprozesse werden beschleunigt. Verfahren, die sonst Monate dauern, brauchen jetzt nur wenige Tage, wobei alle Akteure eingebunden und alle verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet werden. Der politische Kampf der Meinungen lebt und das Parlament ist jederzeit in der Lage, das exekutive Handeln zu kontrollieren.
Auch die Grundrechte sind nicht in Gefahr. Die derzeitigen Grundrechtseinschränkungen zum Schutz von Leben und Gesundheit sind zwar die tiefsten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland je erlebt haben. Doch sie sind das Ergebnis einer wohlbedachten Grundrechtsabwägung. Selbstverständlich unterliegen sie der gerichtlichen Kontrolle. Einzelne Maßnahmen wurden höchstrichterlich aufgehoben - ein Beleg dafür, dass die Gewaltenteilung auch in der Krise funktioniert.
Und selbstverständlich sind die Grundrechtseinschränkungen befristet. Dass und wie sie wieder aufgehoben werden können, lässt sich aktuell am Beispiel der Religionsgemeinschaften sehen:
Auch die Religionsgemeinschaften waren und sind – wie alle anderen Grundrechtsträger – von stärksten Einschränkungen betroffen. Christen an Ostern, Juden an Pessach und Muslime im Ramadan – alle mussten und müssen auf gemeinsame Gottesdienste und Feiern im Familien- und Freundeskreis verzichten. Dabei ist es ein wichtiger Teil der Religionsausübung, den Glauben in Gemeinschaft zu leben. Dies gilt auch und gerade in Krisenzeiten. Selbst im Krieg waren die Kirchen nicht geschlossen. Die Kraft und die Zuversicht, die der Glaube spendet, bezieht er auch aus der Gemeinschaft der Gläubigen - also aus dem, was jetzt „Sozialkontakt“ heißt und verboten ist oder vermieden werden soll. Trotzdem haben auch die Glaubensgemeinschaften erkannt, dass die Einschränkungen in höchstem Maße sozial sind, weil sie aus Nächstenliebe und zum Schutz des Lebens geschehen. Die Religionsgemeinschaften leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Krise. Dem gebührt große Anerkennung.
Die strikten Einschränkungen werden jetzt im Dialog mit den Religionsgemeinschaften verantwortungsvoll, stufenweise, differenziert und im Bewusstsein der besonderen Bedeutung der Religionsfreiheit wieder aufgehoben. Die Religionsgemeinschaften selbst haben dafür gute Konzepte entwickelt. Aus ihnen wird – bei allen religionsspezifischen Unterschieden – deutlich, dass der Schutz des Lebens für alle die oberste Maxime ist. Auf dieser Grundlage haben der Bund und die Länder am 30. April einen Maßnahmenkatalog beschlossen. Das wichtigste Ergebnis ist, dass gemeinsame Gottesdienste und Gebete wieder möglich sein werden, wenn auch unter strengen Infektionsschutzbedingungen.
Die Art und Weise, wie die Grundrechtseinschränkungen im Bereich der Religionsfreiheit, wieder aufgehoben werden, lässt mich zuversichtlich in die Zukunft blicken. Wenn wir in allen Bereichen so verantwortlich, solidarisch und besonnen vorgehen, werden wir Erfolg haben. Die Erfahrung, eine so schwere Belastungsprobe gemeinsam bestanden zu haben, wird den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken.